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Einleitung

Straßenkinder sind im öffentlichen Bewußtsein ein typisches Merkmal von Ländern der Dritten Welt. Der Begriff Straßenkind wird von den meisten Leuten mit Bildern von kleinen verwahrlosten Gestalten aus den Slums lateinamerikanischer Metropolen assoziiert. Dieses Bild wurde empfindlich gestört, als die Medien anfingen, auch über Straßenkinder im hochentwickelten und reichen Deutschland zu berichten. Spätestens seitdem ist auch einer breiten Öffentlichkeit bewußt geworden, daß das Straßenkinderphänomen ein weltweites Problem darstellt.

Die Annahme, daß Straßenkinder ein junges Phänomen sind, ist allerdings falsch. Schon 1212 traten sie als Folge des Kinderkreuzzugs in ländlichen Gebieten Europas auf (Peacock, 1994, S.138). Zum gesellschaftlichen Problem wurden sie während der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert. Alleine in London wurde ihre Zahl auf 30.000 geschätzt. Mit Oliver Twist von Charles Dickens gingen sie in die Weltliteratur ein. 1841 wurde in Turin mit dem Salesianerorden des italienischen Pfarrers Don Bosco das erste ''Straßenkinderprojekt'' gegründet (Pollmann, 1992, S.189).

In diesem Jahrhundert traten Straßenkinder in großer Zahl als Folge der beiden Weltkriege, der russischen Revolution, aber auch der Wirtschaftsdepression von 1929 in den USA auf. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks hat die Zahl der Straßenkinder in den letzten Jahren sprunghaft zugenommen.

Glaubhafte Zahlen über Straßenkinder sind kaum erhältlich. Fast alle Schätzungen über ihre Zahl stammen aus Südamerika. Die Quellen enthalten meistens keine Hinweise darauf, wie die Schätzungen zustande kamen oder wie ein Straßenkind überhaupt definiert wird (Ennew/Milne, 1991, S.102-103). Schätzungen von UNICEF geben 80 bis 100 Millionen weltweit an (Pollman, 1992, S.192). Bei der derzeitigen Weltbevölkerung von ca. sechs Milliarden Menschen, bedeutet dies, daß jeder sechzigste Erdbewohner ein Straßenkind ist. Eine solche Zahl ist meiner Meinung nach nur mit einer sehr weit gefaßten Definition des Begriffs Straßenkind vereinbar.

Weltweit scheint das vermehrte Auftreten von Straßenkindern durch die gleichen sozialen Bedingungen begünstigt zu werden. Ein treibender Faktor ist die Armut breiter Bevölkerungsschichten. Eine rasche Urbanisierung ist die Folge und damit verbunden die Desintegration der Familienverbände. Das soziale Netzwerk, das Kinder in Notsituationen traditionell aufgefangen hat, bricht gerade in Zeiten von rapidem sozialen und politischen Wandel zusammen. Betroffene Kinder sind dann gezwungen, auf sich selbst gestellt zu überleben.

Im Vergleich zu Lateinamerika ist die Zahl von Straßenkindern in afrikanischen Ländern sehr gering. Der Grund hierfür liegt wahrscheinlich in den traditionellen Großfamilien, dem starken Zusammenhalt dörflicher Gemeinschaften und den ausgeprägten Stammesstrukturen. Sie schaffen einen Ausgleich zu fehlenden staatlichen Einrichtungen, die Kinder in Not aufnehmen könnten. Massives Auftreten von Straßenkindern wie im Sudan oder Mosambik ist oft eine Folge von Bürgerkriegen. Während im 500.000 Einwohner (1983) zählenden Khartum, der sudanesischen Hauptstadt, über 20.000 Straßenkinder leben (Pollmann, 1992, S.191), lag ihre Zahl 1990 in Kinshasa, der Hauptstadt von Zaire mit 2,8 Millionen Einwohnern (1987), bei 8.000 (Africa Research Bulletin, 1995, S.11737).

Diese Arbeit beschäftigt sich mit Straßenkindern in Südafrika. Durch die Politik der Rassentrennung wurde hier eine besondere Situation geschaffen. Die Verarmung der schwarzen Bevölkerung wurde einkalkuliert und die Zerstörung der schwarzen Familien bewußt in Kauf genommen. Südafrikanische Straßenkinder sind daher zum großen Teil als ein Produkt der Apartheidspolitik zu sehen.

Mit der Lockerung der Apartheid wurde es Ende der achtziger Jahre für unabhängige Organisationen (Non Governmental Organisations, NGOs) möglich, für die Belange der Straßenkinder auch offiziell einzutreten und ihre Situation zu verbessern. Eine dieser Organisationen ist Street-Wise in Johannesburg, das ich in dieser Arbeit vorstellen werde. Ich war dort als Support Programme Coordinator im Jahr 1990 angestellt, als diese Organisation noch im Aufbau begriffen war und adäquate Konzepte entwickelt und ausprobiert wurden. Es war die Zeit des großen politischen und gesellschaftlichen Umbruchs beim Übergang von der Apartheid zu einer echten Demokratie, die durch die Legalisierung des ANC und die Freilassung Nelson Mandelas eingeleitet wurde.

Diese Arbeit gibt den Status und die Erfahrungen aus dem Jahr 1990 wieder, schließt aber auch neue mir bekannte Entwicklungen ein. Sie ist folgendermaßen gegliedert:

Im ersten Kapitel wird der Hintergrund der Apartheid vorgestellt und ihre Konsequenzen für die schwarze Bevölkerung. Anschließend gehe ich allgemein auf die Straßenkinder in Südafrika ein. Im nächsten Kapitel stelle ich das Street-Wise Projekt in Johannesburg mit seinen verschiedenen Programmen vor. Im letzten Kapitel folgt eine Auswertung der gemachten Erfahrungen und Überlegungen für Projekte in Anbetracht der neuen Situation in Südafrika.

Auch wenn ich im Text immer den Begriff Straßenkinder verwende, muß berücksichtigt werden, daß ihr Durchschnittsalter zwischen 13 und 14 Jahren liegt und viele daher eigentlich schon Jugendliche sind.


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Chris Pinkenburg
Fri Aug 23 21:56:28 CST 1996