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Auswertung und Ausblick

Es gibt keine universelle Lösung für das Problem der Straßenkinder. Schon die Verschiedenheit der Gründe für das Straßenleben und die Tatsache, daß es sich um individuelle Persönlichkeiten handelt, machen einen globalen Lösungsansatz unmöglich. Projekte für Straßenkinder müssen daneben die spezifischen örtlichen Bedingungen und den kulturellen Hintergrund in Betracht ziehen. Auch wenn es ungern erwähnt wird, setzt letzlich die finanzielle Ausstattung eines Projektes die Rahmenbedingungen für die Durchführbarkeit von Programmen. Die wirtschaftliche Lage Südafrikas und die zunehmende Zahl von Straßenkindern bedeuten, daß kostspielige Programme für kleine Elitegruppen von Straßenkindern weder bezahlbar noch angemessen sind. Konzepte aus Industrieländern, die hohe Ausgaben für Einrichtungen, Personal und Therapien beinhalten, sind in Entwicklungsländern, zu denen für die Mehrheit der Bewohner auch Südafrika zählt, undurchführbar. Die Mehrheit der Projekte sind NGOs und erhalten keine finanzielle Unterstützung vom Staat und müssen miteinander um Spendengelder konkurrieren. Dieses macht eine gesicherte langfristige Planung unmöglich.

Südafrika benötigt elementare und unkomplizierte Programme, die eine maximale Zahl von Kindern erreichen. Bei der Entwicklung dieser Programme muß berücksichtigt werden, daß die Straßenkinder keine einheitliche Gruppe mit denselben Bedürfnissen und Interessen sind. Einige von ihnen sind wegen Mißhandlungen durch die Eltern auf der Straße, andere wurden von ihren Eltern ausgesetzt oder die Armut trieb sie dorthin, auch Langeweile und Abenteuerlust sind Gründe. Einige sind in kriminelle Aktivitäten verwickelt, andere verdienen ihren Lebensunterhalt durch Betteln oder arbeiten. Einige planen für ihre Zukunft und wollen sich weiterbilden, andere sind mit ihrem täglichen Leben zufrieden und schätzen ihre Freiheit auf der Straße.

Manche Kinder würden gerne zu ihren Familien zurück, andere würden sofort wieder weglaufen, wenn sie nach Hause gebracht würden.

Trotz dieser Unterschiede zeigen sie einige gemeinsame Charakteristiken, die wahrscheinlich durch die Anpassung an das Leben auf der Straße hervorgerufen oder zumindest verstärkt werden. Straßenkinder haben nach eigenen Angaben einen stark ausgeprägten Freiheitsdrang. Sie versuchen, sich jeglicher Kontrolle zu entziehen und lehnen autoritäre Strukturen ab. Dieser Freiheitsdrang kann aber auch zum Teil als Glorifizierung ihrer Tendenz gesehen werden, vor Konflikten und Schwierigkeiten zu flüchten. Dieses bedeutet für Projekte, daß sie nur auf strikt freiwilliger Basis funktionieren können und daß man akzeptieren muß, daß ein Teil der Kinder immer wieder weglaufen wird. Projekte sollten daher als erstes bemüht sein, mit ihnen zusammen andere Konfliktlösungsstrategien zu entwickeln.

Straßenkinder haben ein niedriges Selbstwertgefühl, was unter anderem auf der generell feindseligen Einstellung der Gesellschaft ihnen gegenüber beruht. Ein weiterer Faktor sind die Erfahrungen und Erlebnisse in Schule und Familie, die zu ihrem Straßenleben führten. Eine wichtige Aufgabe für Projekte ist es daher auch, ihr Selbstbewußtsein zu verstärken.

Lang- oder auch nur mittelfristige Planung wird durch das auf das alltägliche Leben ausgerichtete Straßendasein unmöglich gemacht. Ihr kurzfristiges Denken, das durch fehlende Einflußmöglichkeiten auf ihre äußeren Lebensumstände verstärkt wird, zeigt sich für Außenstehende in ihrem Wunsch nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung, mangelnder Einsicht in die Konsequenzen ihre Taten und Impulsivität. Es ist deshalb wichtig, ihnen die Sicherheit zu bieten, die langfristiges Denken überhaupt erst sinnvoll macht.

Die einzelnen Projekte sollten nicht versuchen, ein einziges Programm für alle Straßenkinder zu entwickeln, sondern sich auf Zielgruppen konzentrieren. Die Bedürfnisse dieser Gruppe müssen dann erforscht werden, um die Programme effektiv gestalten zu können. Die Inhalte der einzelnen Programme müssen die finanzielle und personelle Kapazität des Projektes berücksichtigen. Weil auf diese Weise nicht jede Organisation allen Gruppen von Straßenkindern Hilfe anbieten kann, ist eine enge Zusammenarbeit und Kommunikation mit anderen Projekten notwendig. Kinder, deren Bedürfnisse von einer Organisation nicht befriedigt werden können, könnten dann weiter verwiesen werden. Auch könnten die Kinder wählen, welche Programme ihren eigenen Wünschen und ihrer Persönlichkeit entsprechen. Dies würde auch ihren Wunsch nach Selbstbestimmung besser berücksichtigen.

Eine erfolgreiche Reintegration eines Straßenkindes in die Gesellschaft bedeutet letztendlich, daß der Betreffende entweder eine Arbeit hat, von der er leben kann, oder eine Wiedereingliederung in die Familie. Dies sind natürlich Maximalforderungen, die Projekte aber zumindest als Fernziele immer im Auge behalten sollten. Es hat wenig Sinn, dieses Fernziel mit einem großen Schritt erreichen zu wollen. Viel wirkungsvoller ist es, in kleinen Schritten vorzugehen, wobei die Schwelle zum nächsten Schritt immer niedriger sein sollte als der Schritt, auf die Straße zurückzukehren.

Der erste Schritt besteht in der Kontaktaufnahme zum Straßenkind und dem Aufbau einer Vertrauensbeziehung durch Outreach-Programme. Im Gegensatz zu Lateinamerika ist das Leben der südafrikanischen Straßenkinder nicht durch Todesschwadronen bedroht. Man ist deshalb nicht gezwungen, sie so schnell wie möglich in einem Shelter unterzubringen, sondern kann sich genügend Zeit lassen, sie auf diesen Schritt vorzubereiten. Während dieser Zeit können ihre Lebensbedingungen durch medizinische Hilfe und Ausgabe von Kleidung verbessert werden. Die Versorgung mit Lebensmitteln ist nicht lebensnotwendig, aber die Erfahrung hat gezeigt, daß dies die einfachste Möglichkeit ist, ihr Vertrauen zu gewinnen. Um ihnen wenigstens eine mittelfristige Planung zu ermöglichen, halte ich die Einrichtung eines kleinen Lagerraums für sinnvoll. Durch die Möglichkeit, ihre Sachen für einen späteren Zeitpunkt dort aufzuheben, wären sie nicht mehr gezwungen, alles sofort zu konsumieren, bevor es gestohlen wird. Vielleicht würden sie dann aus eigenem Antrieb wieder anfangen, langfristiger zu denken.

Auf der Basis gegenseitigen Vertrauens können die Outreach-Mitarbeiter erste Informationen über die Kinder sammeln. Mit Hilfe dieser Informationen kann schon in diesem Stadium versucht werden, Mißverständnisse zwischen Eltern und Kinder auszuräumen und sie wieder in ihre Familien zu integrieren. Dieses fällt besonders bei Neuankömmlingen leichter, bevor sie sich an das Straßenlebens angepaßt haben. Nach meiner Erfahrung helfen die anderen Kindern sogar dabei, diese Neuankömmlinge zu lokalisieren. Die rasche Zurückführung ist besonders effektiv bei Kindern, die sich in der Stadt lediglich verirrt haben oder mit ihren Freunden auf der Suche nach den Lichtern der Großstadt kamen.

Ein weitere wichtige Rolle für das Outreachprogramm wäre eine Vermittlerrolle zwischen Straßenkindern und der Polizei. Nach den ersten freien Wahlen in April 1994 versprach die Regierung, die Situation von Straßenkindern zu verbessern, so daß jetzt eine reelle Chance besteht, mit der Polizei auf der Basis eines gemeinsamen Interesses zusammenzuarbeiten. Speziell die Lokalisierung von Eltern verirrter Kinder dürfte damit kein unlösbares Problem mehr sein.

Im allgemeinen hat jedes Projekt sein eigenes Outreach-Programm und erwartet natürlich, daß dessen Mitarbeiter nicht nur die Interessen der Straßenkinder, sondern auch die des Projektes berücksichtigen. Speziell die Shelter konkurrieren miteinander um die Kinder. Anstatt Zeit und Energie mit solchen Konkurrenzkämpfen zu vergeuden, die den Kindern wenig nützen, sollten sie sich auf ein gemeinsames Outreach-Programm verständigen. Dieses gemeinsame Programm könnte finanziell und personell besser ausgestattet werden als die Einzelprogramme und könnte schon von daher effektiver arbeiten. Durch die Unabhängigkeit von einzelnen Projekte könnten die Outreach-Mitarbeiter ausschließlich im Interesse der Straßenkinder handeln und ihnen das jeweils am besten geeignete Programm vorschlagen.

Die Reintegration in die Familien sollte schon deshalb eine hohe Priorität einnehmen, weil es realistisch betrachtet gar nicht möglich ist, alle Straßenkinder in Heimen unterzubringen. Shelter wie Tshepo sind vom Konzept her nur temporäre Unterkünfte und für eine jahrelange Unterbringung ungeeignet. Die Möglichkeit einer Wiedereingliederung in die Familie sollte immer wieder überprüft werden, auch wenn ein Kind schon in einem Shelter untergebracht ist und an weiterführenden Programmen teilnimmt.

Projektmitarbeiter neigen dazu, das von den Straßenkinder dargestellte negative Bild ihrer Familien kritiklos zu übernehmen (Richter, 1989, S.105). Nach meiner Erfahrung tendieren Projekte daher dazu, Kinder an sich zu binden, anstatt Kontakt mit den Eltern aufzunehmen und die Situation in der Familie zu erforschen. Oft erzählen aber auch die Kinder, daß die Eltern gestorben oder verschwunden wären, was sich später als Unwahrheit erweist.

Im Rahmen der Möglichkeiten sollte versucht werden, auch die Familie auf eine Reintegration optimal vorzubereiten. Da eine langfristige finanzielle Unterstützung unmöglich ist und wahrscheinlich kontraproduktiv wäre, ist die Hilfe zur Selbsthilfe der beste Weg. In Südafrika gibt es viele lokale Selbsthilfe-Organisationen, die den Eltern helfen könnten, ein Einkommen zumindest im informellen Sektor zu erzielen. Das Straßenkinderprojekt könnte hier eine Vermittlerrolle übernehmen. Liegen die Gründe für das Weglaufen nicht in finanziellen Schwierigkeiten, sondern bei den Eltern, könnten sie an lokale Beratungsstellen vermittelt werden. Ohne diese begleitenden Maßnahmen hat es wenig Sinn, die Kinder zu ihren Eltern zurückzubringen. Als äußerst hilfreich bei der Reintegration erwies es sich in Zambia, wenn die Kinder über Fertigkeiten verfügten, mit denen sie Geld verdienen konnten. Sie wurden leichter von ihren Familien akzeptiert und wollten auch eher selber wieder nach Hause gehen (Redd Barna Africa, 1990, S.14). Ist eine Reintegration in die Familie unmöglich, sollte versucht werden, Pflegeeltern zu finden.

Ist eine sofortige Wiedereingliederung in die Familie oder die Plazierung in einer Pflegefamilie nicht möglich, ist der nächste Schritt die Aufnahme in einen Shelter. Hier sollten die Kinder soweit resozialisiert werden, daß sie an anderen Programmen teilnehmen können. Dieser Schritt muß auf der freiwilligen Entscheidung des Kindes beruhen. Das Ziel des Shelteraufenthaltes sollte von vornherein klar sein, und das Kind muß Kooperationsbereitschaft bei der Einhaltung der Shelterregeln zeigen. Auch sollte überlegt werden, nach einer Eingewöhnungszeit die Teilnahme an einem Ausbildungsprogramm verpflichtend zu machen.

Meine Erfahrungen haben mir gezeigt, daß jüngere und ältere Kinder nach Möglichkeit in getrennten Shelter untergebracht werden sollten, um die Gefahr von sexuellem Mißbrauch und Gewalt zu minimieren. So kann auch besser auf die verschiedenen Bedürfnisse beider Gruppen eingegangen werden. Nehmen die Kinder später an weiterführenden Programmen teil, sollten separate Unterkünfte wie zum Beispiel eine Wohngemeinschaft, wie die Commune, zur Verfügung gestellt werden.

Ein Alphabetisierungsprogramm halte ich unabhängig vom Alter für essentiell. Die Fähigkeit, Lesen und Schreiben zu können, vergrößert in Südafrika alleine schon die Chance auf einen Arbeitsplatz. Im heutigen Südafrika sollte versucht werden, das Konzept des Pavement Schooling wieder aufzugreifen, um auch Kinder, die noch auf der Straße leben mit einzubeziehen. Die Schwierigkeit hierbei liegt darin, daß nach meiner Erfahrung fast alle Kinder auf der Straße Klebstoffschnüffler sind und durch das Straßenleben nur eine kurze Aufmerksamkeits- und Konzentrationsspanne haben. Um wenigstens die Ablenkungen von außen zu reduzieren, wäre der Unterricht in einem Raum wahrscheinlich effektiver.

Ein wichtiger Aspekt des Alphabetisierungsprogramms wäre das Wiedererlernen grundlegender sozialer Fähigkeiten (z.B. Zusammenarbeit, Respekt vor anderen, Konflikte lösen statt wegzurennen), die später in der Schule oder bei der Berufsausbildung unabdingbare Vorraussetzungen sind. Das Alphabetisierungsprogramm sollte nicht wie eine typische Klassenraumsituation gestaltet werden. Der Einbau spielerischer Elemente, Übungen, die alle Sinne ansprechen und die Einbeziehung körperlicher Aktivitäten entsprechen eher den Bedürfnissen der Straßenkinder und würde helfen, ihr Potential offenzulegen.

Die Absolventen des Alphabetisierungsprogramms werden in den meisten Fällen zu alt sein, um eine schulische Ausbildung beginnen zu können. Dagegen besteht bei den jüngeren, die früher schon einige Jahre die Schule besucht hatten, eine reelle Chance, sie wieder in die Schule einzugliedern. Hierzu müßte ein Bridging-Programm, ähnlich dem von Street-Wise, stattfinden, das sie innerhalb möglichst kurzer Zeit auf den Besuch einer formalen Schule vorbereitet. Allerdings sollte anders als bei Street-Wise das Bridging-Programm von der Berufsvorbereitung für andere Kinder abgekoppelt werden.

Im heutigen Südafrika ist es nicht mehr nötig, daß schwarze Kinder in Johannesburg auf eine Privatschule gehen, so daß die finanzielle Belastung für das Projekt geringer ist. Auch wird dadurch verhindert, daß durch den Besuch einer exklusiven Privatschule unerfüllbare Erwartungen geweckt werden. Problematisch an einem solchen Schulprogramm ist die Zeitspanne, während der für die Kinder gesorgt werden muß. Während das Alphabetisierungsprogramm und auch eine Berufsvorbereitung nicht wesentlich länger als ein bis zwei Jahre in Anspruch nehmen sollte, dauert der Schulbesuch wesentlich länger. Nach meinen Erfahrungen bei Street-Wise würden die Kinder durchschnittlich sechs Jahre bis zu einem dem Abitur vergleichbaren Abschluß, zwei Jahre weniger für einen ersten qualifizierenden Abschluß benötigen. Wahrscheinlich müssen diese Kinder nach ihrer Schulausbildung noch zusätzliche Qualifikationen erwerben, um sich auf dem Arbeitsmarkt behaupten zu können. Neben der Schwierigkeit, daß die Finanzierung für einen solchen Zeitraum gewährleistet sein muß, heißt das für das Projekt auch, daß erst nach vier bis sechs Jahren die ersten Kinder das Programm erfolgreich verlassen werden. Das Programm muß also bei kontinuierlicher Aufnahme von Kindern sechs Jahre lang expandieren, bevor ein Gleichgewicht zwischen neu Aufgenommenen und Absolventen hergestellt werden kann. Nachdem die Regierung versprochen hat, die Situation der Straßenkinder zu verbessern, sollte um staatliche Mittel für dieses Programm ersucht werden. Eine andere Möglichkeit wäre, Sponsoren für die Ausbildungskosten einzelner Kinder zu gewinnen.

Um die Erfolgschancen der Kinder zu erhöhen, müssen diejenigen, die an diesem Programm teilnehmen, sehr sorgfältig ausgesucht werden. Es ist notwendig, daß sie den schulischen Anforderungen - sowohl den sozialen als auch den akademischen - gewachsen sind. Auch ihre Motivation ist sehr wichtig, um den mit Sicherheit auftretenden Schwierigkeiten begegnen zu können. Die Kinder, die sich im Bridging-Programm als ungeeignet für einen Schulbesuch erweisen, sollten an der Berufsvorbereitung teilnehmen.

Die Erfahrungen von Street-Wise und Twilight zeigen, daß höchstens ein Drittel aller Kinder wieder in die Schule integriert werden kann. Wieviele davon letztendlich einen Schulabschluß machen werden, ist noch nicht bekannt, aber ich nehme an, daß es etwa die Hälfte sein werden. Diese Zahlen zeigen, daß der Mehrheit der Straßenkinder mit Programmen, die einen formalen Schulbesuch zum Ziel haben, nicht gedient ist. Sie benötigen vielmehr eine praktisch orientierte Ausbildung, die sie später befähigt, eine Arbeit zu finden und auf eigenen Füßen zu stehen.

Ich halte es für falsch, Jugendliche zur Schule zu schicken, die älter als 16 Jahre sind. Gerade für ältere Jugendlichen ist eine kurze berufsqualifizierende Ausbildung besser geeignet als ein sechsjähriger Schulbesuch, der ihnen keinen Arbeitsplatz garantiert. Erstrebenswert wäre vielmehr die Vermittlung von Lehrstellen oder berufsvorbereitenden Kursen. Zu diesem Zweck müssen Kontakte zu Firmen geknüpft werden, die bereit wären, die Jugendlichen zu trainieren und später eventuell zu übernehmen. Je nach finanziellen Möglichkeiten des Projektes könnten sie auch zu Training Colleges geschickt werden, die Kurse in grundlegenden handwerklichen Fähigkeiten, wie Schweißen, Autoreparatur, Elektrik, Holzbearbeitung und Installation bieten. Trotz dieser erhöhten Qualifikationen sind ihre Chancen bei der hohen Arbeitslosigkeit speziell unter Berufsanfängern auf einen Arbeitsplatz im formalen Sektor nicht sehr groß. In den letzten Jahren fanden durchschnittlich nur 5% der jährlich etwa 300.000 Berufsanfänger einen Arbeitsplatz (CIA, 1995). Es müssen daher zusammen mit ihnen Möglichkeiten gefunden werden, ihre Fähigkeiten im informellen Sektor als Selbständige einzusetzen.

Um ihren Einstieg zu erleichtern, könnte das Projekt als Vermittlungsagentur für temporäre Gelegenheitsarbeiten fungieren. Anfänglich wäre es wahrscheinlich nötig, die Qualität der durchgeführten Arbeit zu kontrollieren, um den Ruf des Projektes und die Chancen der anderen Jugendlichen nicht zu gefährden. So könnte den Jugendlichen auch die Wichtigkeit guter Arbeit gezeigt werden, die über den Preis entscheidet, den man verlangen kann.

Eine andere Möglichkeit selbständig Geld zu verdienen, ist die Herstellung von Artikeln, die verkauft werden können. Speziell der stark wachsende Tourismus bietet gute Absatzmöglichkeiten für von Straßenkindern angefertigte Souveniers. Diese Souveniers (Drahtspielzeuge, Masken, Puppen...) sind mit einfachen Mitteln herstellbar, und die erforderlichen Techniken sind leicht zu erlernen. Diese Arbeiten könnten deshalb im Projekt selber ausgeführt werden. Es wäre zu überlegen, einen kleinen Laden zu eröffnen, der auch gleichzeitig als Werbung für das Projekt dienen könnte. Eine weitere Möglichkeit des Verkaufs wären Stände auf den vielen in letzter Zeit entstandenen Flohmärkten in Johannesburg und Umgebung.

Durch die Einbeziehung der Jugendlichen in die Organisation aller dieser Aktivitäten könnten ihnen quasi nebenbei wirtschaftliches Denken, Kostenrechnung, Gewinnoptimierung und einfache Buchführung an praktischen Beispielen nähergebracht werden.

Neben den Forderungen, die sich aus der spezifischen Zielrichtung eines Programms ergeben, gibt es globale Aspekte, die bei der Entwicklung jedes Programms beachtet werden müssen:

Straßenkinder haben bewiesen, daß sie auch auf sich alleine gestellt überleben können. Projekte dürfen Kinder nicht zu Abhängigen degradieren und damit ihre Selbstständigkeit wieder zerstören. Mitarbeiter sollten nicht versuchen, die unmögliche Aufgabe einer Elternrolle für 100 Kinder zu übernehmen.

Die Zielsetzung eines Programms muß klar in Abstimmung mit den Straßenkindern definiert sein und eine realistische Erfolgschance haben. Bei den Kindern dürfen keine unrealistische Erwartungen unterstützt oder geweckt werden. Dadurch wird die Glaubwürdigkeit des Programms bei den Kindern erhöht und damit auch ihre Motivation mitzuarbeiten.

Dem Programm muß eine realistische Einschätzung der Straßenkinder und ihrer individuellen Fähigkeiten und Potentiale zugrunde liegen. Jedes Projekt muß akzeptieren, daß im Rahmen seiner Möglichkeiten nicht allen Kindern geholfen werden kann.

Das bloße Image eines Opfers der Gesellschaft wird den Straßenkindern nicht gerecht und kann durch den Versuch einer Wiedergutmachung die Förderung und Erhaltung ihrer Selbstständigkeit verhindern, die sie für ein ''Leben nach dem Projekt'' brauchen. Diese Opfer-Vorstellung kann meiner Erfahrungen nach sogar dazu führen, daß eindeutig kriminelles Verhalten, wie Körperverletzung und Vergewaltigung, entschuldigt und quasi hingenommen wird. In solchen Fällen sollte es der Justiz überlassen werden, damit umzugehen.

Ein Programm darf nicht zu einer bloßen Auffangstation stagnieren. Wird im Laufe eines Programmes festgestellt, daß einigen Kindern so nicht geholfen werden kann, sollten sie so schnell wie möglich woanders untergebracht werden.

Um die bei Straßenkinderprojekten übliche starke Mitarbeiterfluktuation zu verhindern, müssen Unterstützungs- und Trainingsprogramme für die Mitarbeiter entwickelt und angeboten werden. Unbewußte Motive und Erwartungen sollten in Supervisionssitzungen erkannt und gegebenenfalls langfristig korrigiert werden, um Frustrationen durch unrealistische Vorstellungen vorzubeugen. Sie können so auch besser mit den hohen psychischen Belastungen fertigwerden, die der Balanceakt zwischen emotionaler Nähe zu den Kindern und der Notwendigkeit objektiver Distanz mit sich bringt.

Die Projekte müssen sich bewußt werden, daß sie die einzige Lobby für die Belange der Straßenkinder sind. Es liegt daher in ihrer Verantwortung, Aufklärungsarbeit zu leisten und politischen Einfluß zu nehmen. Hierzu zählt nicht nur die Verbesserung der Situation der Straßenkinder selbst, sondern auch präventive Arbeit in den Kommunen und legislative Initiativen. Ich glaube nicht, daß Straßenkinderprojekte selber präventive Arbeit auf kommunaler Ebene leisten können, aber sie sollten solche Programme anregen und beratend zur Seite stehen. In diesem Zusammenhang halte ich das Verbot der körperlichen Züchtigung in den Schulen für absolut notwendig. Die Einrichtung von Sozialarbeiterstellen in den Schulen würde helfen Kinder, die an der Grenze zum Straßenleben stehen zu erkennen und in geeigneter Form zu intervenieren. Weil sich die Kinder allmählich von ihrer Familie lösen und nicht in einem abrupten Schritt auf die Straße gehen, hätte eine präventive Arbeit gute Chancen, die Kinder aufzufangen, bevor sie zu Straßenkindern werden.

Der legale Status von Straßenkinderprojekten muß eindeutig geklärt werden. Bis jetzt operieren sie meistens in einer gesetzlichen Grauzone. Das bringt auf der einen Seite Vorteile, da es bis jetzt keine Vorschriften und Restriktionen für den Aufbau und den Betrieb von Sheltern gibt. Andererseits sind so die Projekte von staatlichen Hilfen ausgeschlossen, und die Zusammenarbeit mit den Behörden funktioniert nur auf der Basis des guten Willens. Bis jetzt besteht außerdem theoretisch die Möglichkeit, daß die Mitarbeiter eines Shelters wegen Kindesentziehung angezeigt werden.

Bei der Beantwortung bis jetzt ungeklärter Fragen über das Straßenkinderphänomen kommt den Projekten eine Schlüsselrolle zu. Es ist notwendig, daß sie systematische Informationen sammeln, um eine verläßliche Basis für weitere Forschungen zu schaffen. Hierzu gehört auch die Evaluierung des eigenen Erfolges, um Programme ständig verbessern zu können, und der Informationsaustausch mit anderen Projekten, um die Wiederholung von Fehlern zu vermeiden.

Eine genauere Analyse der Gründe für das Auftreten von Straßenkindern würde der Entwicklung von effektiven präventiven Maßnahmen dienen. Internationale Vergleiche könnten helfen, die einzelnen verantwortlichen gesellschaftlichen Faktoren für das Straßenkinderphänomen zu isolieren.

Die Frage, ob das Straßenleben nur eine temporäre Phase im Leben der Kinder ist oder ob sie ohne äußere Hilfe auf der Straße bleiben würden, muß in Südafrika näher untersucht werden. Sollte es sich nur um eine temporäre Phase handeln, wäre es die primäre Aufgabe der Straßenkinderprojekte, diese Phase zu verkürzen und nicht sie durch langfristige Programme möglicherweise zu verlängern.


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Chris Pinkenburg
Fri Aug 23 21:56:28 CST 1996