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Die Mikroebene: Persönliche Faktoren

  Die Tatsache, daß ungefähr 3,5 Millionen Kinder in Südafrika unter den gleichen schlechten Bedingungen leben müssen und nur ein geringer Prozentsatz zu Straßenkindern werden, ist für sich schon ein starker Hinweis darauf, daß das Phänomen nicht nur durch Faktoren aus der Makro- und Mesoebene erklärt werden kann. Der Grund, warum ähnliche Zustände unterschiedliche Reaktionen auslösen, muß in den individuellen Persönlichkeiten der Kinder liegen. In diesem Bereich gibt es bis jetzt nur wenige systematische Untersuchungen, aber es scheint sich folgende generelle Tendenz herauszukristallisieren:

Straßenkinder zeigen psychologische und soziale Charakteristiken, die der in DSMIII (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association) beschriebenen Kategorie der nicht-aggressiven, untersozialisierten Verhaltensstörung zugeordnet werden (Giles, 1988, S.141). Eine Neigung zu Depressionen und anderen Angstzuständen, niedriges Selbstwertgefühl, Mißtrauen gegenüber anderen, die Angst, allein und ungeliebt zu sein, und ein starker Freiheitsdrang kennzeichnen viele Straßenkinder in Südafrika (Richter, 1991b, S.7; Donald/Swart-Kruger, 1994, S.172; Cockburn, 1991, S.13). Sie zeigen ein hohes Maß an Selbstbestimmung, wie der Nowicki-Strickland locus of Control Test an 97 Straßenkindern in Johannesburg zeigte. (Jansen u.a., 1990, S.156).

Beobachter von Kindern im Claremont Children's Shelter in Kapstadt schrieben den Straßenkindern folgende Eigenschaften zu: Impulsivität, Manipulation von Personen und Situationen, das ungebremste Ausagieren von Gefühlen, das Verlangen nach sofortiger Befriedigung von Bedürfnissen, unrealistische Einschätzung von Situationen und Möglichkeiten, fehlende Einsicht und mangelnde Bereitschaft, aus Fehler zu lernen. Ihre emotionale Entwicklung entsprach der von Fünfjährigen (Lewis, 1993, S.9). Ein weiteres Verhaltensmerkmal von Straßenkindern ist, daß sie in Konfliktsituationen eher die Flucht ergreifen, statt das Problem auf andere Art zu bewältigen (Schärf u.a., 1986, S.269; Cockburn, 1990, S.142). Gerade diese Verhaltensform stellt ein gravierendes Interventionsproblem dar. Sie zeigen kaum das Durchhaltevermögen, das für das Zusammenleben in einem Shelter, für die Schule oder für eine Ausbildung nötig ist, sondern tendieren dazu, bei den ersten Schwierigkeiten alles abzubrechen und wieder wegzulaufen. Dieses Verhaltensmuster (runaway reaction) wurde auch von einem Psychiater bei Kindern im Claremont Children's Shelter in Kapstadt diagnostiziert. Daneben zeigten sie exzessive emotionale Bedürftigkeit und wenig soziale Fähigkeiten. Nach seiner Meinung war die Prognose für diese Kinder schlecht (Lewis, 1993, S.8).

Eine bis jetzt ungeklärte Frage ist jedoch, ob diese Eigenschaften für das Weglaufen der Kinder mitverantwortlich waren oder ob sie erst durch das Straßenleben oder sogar das Leben im Shelter hervorgebracht wurden. Informationen über die Prä-Straßen-Existenz eines Kindes sind kaum zu bekommen. Die Kinder weigern sich oft, über ihre Herkunft zu reden, oder sie erzählen die Unwahrheit oder zumindest nicht die ganze Wahrheit. Die Familien sind nicht leicht lokalisierbar, und auch von ihnen erfährt man nicht notwendigerweise die Wahrheit.

Meistens gehen Kindern nicht sofort permanent auf die Straße. Es ist vielmehr das Ende einer längeren Entwicklung. Sie gehen immer seltener zur Schule, verbringen immer mehr Zeit auf der Straße und beginnen, sich immer weiter von ihrem Zuhause zu entfernen. Oft sind sie anfangs nur für kurze Zeiträume in der Stadt und kehren dann wieder nach Hause zurück (Jackson, 1993, S.6). Der endgültige Schritt wird oft nach einem besonders traumatischen Ereignis in der Familie oder in der Schule gemacht (Schärf u.a., 1986, S.270).

Nicht zu vernachlässigen ist auch die Abenteuerlust als Motivation für den Aufenthalt auf der Straße. Die triste Umgebung und die mangelnden Freizeitangebote in den Townships und ländlichen Gebieten machen die Großstädte besonders attraktiv. In Hillbrow interviewte Straßenkinder sagten oft, sie seien mit Freunden nach Johannesburg gekommen oder wären gekommen, um Freunde zu treffen (Newnham, 1992, S.47). Einige kehren nach ein paar Tagen oder Wochen wieder nach Hause zurück und manche kommen mehrmals ''zu Besuch'' in die Stadt.

Nicht alle Straßenkinder berichten von ständigen Konflikten mit ihren Eltern. Einige hatten aber wegen bestimmter Vorfälle Angst, nach Hause zurückzukehren. In diesen Fällen ist eine schnelle Intervention besonders erfolgversprechend. In diese Kategorie fallen auch die Kinder, die sich nur verirrt haben und die ohne fremde Hilfe keine Chance hätten, nach Hause zurückzufinden.


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Chris Pinkenburg
Fri Aug 23 21:56:28 CST 1996