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Die Struktur und Funktion der Gruppe

Um ihre Überlebenschancen auf der Straße zu maximieren, bewegen sich Straßenkinder meist in Gruppen. Eine solche Gruppe besteht in der Regel aus vier bis sieben Straßenkindern (Swart, 1990a, S.74; Schärf u.a., 1986, S.275) und erfüllt verschiedene Funktionen. Eine wichtige Funktion ist die Weitergabe von Informationen über die Möglichkeiten des Gelderwerbs, über die besten Plätze zum Betteln, wo Autos gewaschen werden können, oder welche Restaurants und Läden Essensreste verteilen. In der Gruppe werden auch Informationen ausgetauscht, die mit ihrer eigenen Sicherheit zusammenhängt: Welche Gassen zu vermeiden sind, wo man wegen Bettelei verprügelt wird, oder wie man am besten der Polizei entkommt. Die Gruppe bildet ein Frühwarnsystem gegen Razzien der Polizei, und die Kinder verschwinden innerhalb von Sekunden.

Die Mitgliedschaft in einer Gruppe ist nicht permanent und es ist allgemein akzeptiert, daß Kinder die Gruppe wechseln. Dieses geschieht zum Beispiel bei Unstimmigkeiten oder wenn ein Kind in einen anderen Stadtteil geht. Nicht alle Gruppen haben einen Anführer, obwohl Straßenkinder eine feste Vorstellung von den notwendigen Qualitäten eines Anführers haben. Er sollte klug, stark, fürsorglich, vertrauenswürdig, gerecht, gütig und auch großzügig sein. Die Anführer werden in allgemeiner Übereinstimmung gewählt und haben insbesondere die Funktion, auf die jüngeren Gruppenmitglieder aufzupassen, sie vor der Polizei zu beschützen und zu schauen, daß sie nicht zuviel Klebstoff schnüffeln (Swart, 1990a, S.76). Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gruppe werden meistens gewaltlos geregelt, und die Kinder, die eine Situation nicht ertragen können, verlassen einfach die Gruppe (Schärf u.a., 1986, S.276).

Die Gruppe spielt auch eine wichtige Rolle bei der Sicherung von Schlafplätzen. Sichere Schlafplätze, sogenannte Pozzies, sind in Johannesburg schwierig zu finden und werden von der Gruppe verteidigt. Es handelt sich hier im allgemeinen um Parks, Geschäftseingänge, Seitengassen, Kanalisationsröhren oder unbebaute Grundstücke. Einige Kinder sind aber auch bereit, in Müllcontainern oder auf dem Bürgersteig zu schlafen. Dieses ist jedoch nicht ganz ungefährlich, wie Michael, ein 14-jähriges Straßenkind, sagte: ''When you sleep in the dustbins you don't put the lid on top...sometimes the man is taking you away with the rubbish (Swart, 1990a, S.69).

Verletzte Straßenkinder werden von ihrer Gruppe versorgt. Die Hilfeleistungen bestehen darin, kranke Mitglieder ins Krankenhaus zu bringen, Medizin oder Verbandsmaterial zu kaufen oder zu erbetteln und Essen zu besorgen. Auch Erwachsene, zu denen die Kinder ein Vertrauensverhältnis aufgebaut haben, werden manchmal gebeten, Kranke zum Arzt zu nehmen. In Athlone (Kapstadt) verhandelte eine Gruppe von Straßenkindern mit dem Manager eines Kinos über die Benutzung eines Raumes, um ein krankes Gruppenmitglied versorgen zu können. Als Gegenleistung verrichteten einige von ihnen Arbeiten für den Manager (Schärf u.a., 1986, S.275).

Das Wohlergehen der Gruppe hat Vorrang, und Mitglieder, die durch ihre Handlungen die Gruppe gefährden, werden bestraft. Eine Gruppe von Straßenkindern in Kapstadt erzählte zum Beispiel, wie ein Neuling von der Gruppe zusammengeschlagen wurde, weil er die Polizei über Taten der anderen Straßenkinder informierte (Schärf u.a., 1986, S.276). Der Zusammenhalt der Gruppe wird durch gemeinsame Aktivitäten verstärkt. In der Gruppe wird zusammen gekocht und gegessen, Veranstaltungen werden gemeinsam besucht, und es wird auch gemeinsam Klebstoff geschnüffelt.

Diese Straßenkindergruppen in Südafrika unterscheiden sich in einigen wesentlichen Merkmalen von Jugendbanden. Im Gegensatz zu Straßenkindern behalten Bandenmitglieder im allgemeinen den Kontakt zu ihren Familien, bei denen sie in der Regel noch wohnen. Die Ziele von Jugendbanden sind die Anhäufung von Reichtum und Macht. Ihre Zielvorstellungen sind damit dieselben wie die der normalen Gesellschaft, nur daß sie versuchen, ihr Ziel mit illegalen Mitteln zu erreichen. Straßenkinder dagegen sind aus der konventionellen Gesellschaft herausgefallen, und ihr Streben richtet sich vielmehr auf das tägliche Überleben (Schärf u.a., 1986, S.266). In ihrer Situation ist es für sie unmöglich, Geld oder Güter zu horten. Daß die alte Werte nicht aufgegeben, sondern nur zurückgestellt wurden, zeigt sich darin, daß nach meiner Erfahrung die Kinder in den Sheltern sehr viel Wert auf materielle Dinge legten. Im Gegensatz zu Straßenkindergruppen üben Banden eine starke Kontrolle über ihre Mitglieder aus und fordern von ihnen absolute Loyalität. Andere Banden werden als Bedrohung empfunden und es werden Kriege gegen sie geführt. Straßenkinder dagegen legen großen Wert auf ihre Individualität, und ihre Gruppen haben eher eine unterstützende als eine beherrschende Funktion. Banden suchen eher die aggressive Konfrontation, während Straßenkinder vor Konflikten flüchten (Schärf u.a., 1986, S.266).

Straßenkinder und Gangmitglieder verachten sich gegenseitig. Fanta, ein 16-jähriger Straßenjunge, beschrieb den Unterschied zwischen Straßenkindern (Malunde) und Bandenmitgliedern folgendermaßen: ''Malunde is like everybody; steal and fight. But not so much, not so bad like the 'A Team' (eine Jugendbande in Johannesburg)...I hurt the boy, I feel bad. The gang hurt the boy he laugh. Thinks it's clever. Push old lady down, thinks it's clever.'' (Swart, 1990a, S.77).


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Chris Pinkenburg
Fri Aug 23 21:56:28 CST 1996