Der reguläre Schulbesuch fordert von den Kindern eine Änderung ihrer gewohnten Verhaltensweisen. Haben sie sich auf der Straße an die sofortige Erfüllung ihre Bedürfnisse gewöhnt, ist in der Schule der Erfolg das Resultat einer längerfristigen Planung und meist nur durch harte Arbeit erreichbar. Sie müssen genügend motiviert sein, um Rückschläge und Mißerfolge hinzunehmen, ohne sofort aufzugeben. Eine starke Selbstdisziplin ist notwendig, um die Wissenslücken zu schließen, die sie gegenüber ihren Schulkameraden haben. Durch ihren Aufenthalt auf der Straße haben sie einige Jahre verloren und sind daher meistens die Ältesten in ihrer Klasse. Die Klassenkameraden von DavidT. (16) zum Beispiel waren durchschnittlich 13 Jahre alt. Nicht zuletzt müssen sie auch den Respekt vor fremdem Eigentum wiedergewonnen und sich wieder an die gesellschaftlichen Spielregeln angepaßt haben.
Durch die Teilnahme am Bridging-Programm von acht Uhr morgens bis ein Uhr nachmittags bei Street-Wise wurden die Kinder wieder an einen reglementierten Tagesablauf gewöhnt. Kinder, die Gruppe 'E' des Bridging Programms erreicht hatten und ausreichende schulische Kenntnisse besaßen, wurden in formalen Schulen plaziert. Diese Kinder wurden von den LehrerInnen gemeinsam ausgesucht, die auch nach ihren Erfahrungen aus dem Unterricht festlegten, in welches Schuljahr sie kommen sollten. In Zweifelsfällen wurden die Kinder probeweise in die niedrigere Klasse geschickt. Auf diese Weise wurden Frustrationen und Enttäuschungen vermieden, und einige Kinder hatten ein schönes Erfolgserlebnis, als sie von der Schule kurz danach höher eingestuft wurden. Obwohl die subjektive Einschätzung der LehrerInnen meistens korrekt war, zeigten Einzelfälle, daß eine fundierte Entscheidung auch objektive Kriterien benötigt. Ein solcher Fall war DavidM., der aufgrund seines vorbildlichen Verhaltens in der Klasse für den Besuch der formalen Schule vorgesehen war, aber bei Tests große Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben offenbarte.
1988 waren sieben Kinder in eine formale Schule geschickt worden. Aufgrund der Apartheidspolitik standen öffentliche Schulen in Johannesburg nicht zur Auswahl. In den Schulen für Schwarze in den Townships fand zu der Zeit wegen der Unruhen kaum noch ein geregelter Unterricht statt. Deshalb wurden für diese sieben Kinder Stipendien organisiert, um sie in einem Internat 50km von Johannesburg entfernt unterzubringen. Die Privatschulen hatten auch kleinere Klassen, und die Lehrer waren deshalb eher in der Lage, auf die besonderen Probleme einzelner Kinder einzugehen. Auch die brutalen Formen der Disziplinierung, die in den öffentlichen Schulen üblich waren, kamen in den privaten Schulen nicht in dem Maße vor.
Aufgrund einiger negativer Erfahrungen wurde das Internatskonzept aber fallengelassen. Die große Entfernung ermöglichte nur sporadische Kontakte und führte zu einer starken Entfremdung der Kinder vom Projekt. Ihre Herkunft erschwerte ihnen die Integration im Internat, das sich nur wohlhabende Leute leisten konnten. Mein Eindruck war, daß sie dort keine Freunde hatten und die meiste Zeit ausschließlich miteinander verbrachten. Besonders problematisch war, daß bei ihnen in der Vergangenheit Erwartungen geweckt worden waren, die das Projekt langfristig nicht erfüllen konnte. Ihre priviligierte Stellung führte während der Ferien, die sie bei Street-Wise verbrachten, zu permanenten Spannungen zwischen ihnen und den Kindern, die eine weniger exklusive Privatschule in Johannesburg besuchten. Der Fall von Elvis hätte durch einen häufigen und besseren Kontakt eventuell verhindert werden können. In nachhinein stellte sich heraus, daß er den akademischen Anforderungen des Internats nicht gewachsen war. Der hierdurch in Verbindung mit seinem übersteigertem Selbstbild verursachte massive Streß und seine latente Gewaltbereitschaft entluden sich in der versuchten Vergewaltigung eines zwölfjährigen Mädchens.
Der erste Schultag in einer formalen Schule in Johannesburg.
Die Schuluniformen
sind in Südafrika obligatorisch.
Von 1990 an wurden die Kinder, die sich qualifiziert hatten, zu einer Privatschule im Zentrum Johannesburgs geschickt. Um den schulischen Erfolg zu erleichtern, wurde ein Support-Programm für die Absolventen des Bridging-Programms eingerichtet. Als Support Programme Coordinator war es eine meiner Aufgaben, diese Kinder zu betreuen und zu unterstützen. Jeden Nachmittag erhielten sie Hausaufgabenhilfe, und freiwillige MitarbeiterInnen halfen ihnen bei der Aufarbeitung des versäumten Schulstoffes. Ich etablierte regelmäßige Kontakte zu ihren LehrerInnen und dem Direktor der Schule, um sie für die besonderen Probleme der Straßenkinder zu sensibilisieren. Auf diese Weise konnten Schwierigkeiten frühzeitig erkannt und durch Gespräche mit den Kindern ausgeräumt werden. Die gute Vorbereitung durch das Bridging Programme zeigte sich darin, daß es während der Zeit, in der ich dort arbeitete, keine ernsthaften Probleme in der Schule gab. Die Kinder waren sehr stolz darauf, wieder zur Schule zu gehen, und eine weitere Beaufsichtigung war unnötig. Während die Kinder aus den Sheltern zum Unterricht in Street-Wise mit einem Bus geholt werden mußten, fuhren sie morgens selbständig mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Schule. Absichtliches Versäumen des Unterrichts war eine extreme Seltenheit.
Der Erfolg dieses Programms läßt sich bis jetzt nicht an Zahlen von Schulabgängern messen. Die meisten der Teilnehmer wurden in die sechste Klasse eingeschult und benötigten damit bis zum Schulabschluß nach der zwölften Klasse noch sechs Jahre. Bei meinem letzten Besuch 1994 waren die meisten der 1990 Eingeschulten noch im Programm und es gab einige Neuzugänge. Einer war Vater geworden und hatte daraufhin die Schule abgebrochen und drei mußten wegen krimineller Handlungen das Projekt verlassen.
Um ein motivierenderes Umfeld als eine Shelter für diese Kinder zu schaffen, wurde eine Wohngemeinschaft, die Commune, gegründet. Auf sie werde ich im Anschluß an die Beschreibung der Ausbildungsprojekte eingehen.