next up previous contents
Next: Der Besuch einer formale Up: Das Ausbildungsprojekt Previous: Das Alphabetisierungsprogramm

Das Bridging Programm: Die Vorbereitung auf den Besuch einer formalen Schule

  figure323
Abbildung:  

Während der halbtstündigen Schulpause bekamen die Kinder Tee und etwas zu essen.

  figure329
Abbildung:

  Würfelspielen um Geld ist bei den Kindern sehr beliebt. Auch wenn die Lehrer es nicht gerne sahen, fanden sie immer eine Ecke hierfür.

An diesem Programm nahmen diejenigen Straßenkinder teil, die schon eine Schule besucht hatten und den Schulbesuch wieder aufnehmen wollten. Auch die Absolventen des Alphabetisierungsprogramms konnten an diesem Programm teilnehmen. Ziel dieses Programms war, die Kinder, die schon einige Jahren nicht mehr in die Schule gegangen waren und vieles verlernt hatten, auf die Reintegration in eine formale Schule vorzubereiten. Neben dem Mangel an schulischem Wissen stellt vor allem das Verhalten im Unterricht das Hauptproblem dar. Die meisten Straßenkinder haben nur kurze Aufmerksamkeitsspannen und müssen erst wieder lernen, längere Zeit ruhig zu sitzen und zuzuhören. Um ihr Verhalten dahingehend zu verändern, entwickelte Street-Wise für die Straßenkinder ein passendes Klassensystem. Die Kinder wurden in verschiedene Gruppen eingestuft, die ihre Stärken und Schwächen berücksichtigten und den LehrerInnen ermöglichten, sie entsprechend zu fördern.

Alle neu aufgenommenen Kinder mußten erst mindestens drei Wochen in einer Pre-Group verbringen. Die Pre-Group hatte die Funktion, Kinder wieder an eine schulische Situation zu gewöhnen. Die Pre-Group wurde von einer einzigen Lehrerin betreut, damit die Kinder leichter Vertrauen entwickeln und ihre Ängste abbauen konnten. Deshalb wurden für diese Position immer Lehrerinnen mit mütterlicher Ausstrahlung ausgewählt. Weil viele Kinder nur mangelhafte Englischkenntnisse besaßen, mußte die Lehrerin auch Sotho und Zulu beherrschen. Während der Zeit in der Pre-Group durchliefen die Kinder einen Bewertungsprozeß, in dem soziologische und psychologische Informationen über jedes Kind gesammelt wurden. Auch der kognitive Entwicklungsstand und die vorhandene Schulbildung wurden geprüft. Bei diesen Tests mußten die kurze Konzentrationsspanne und die leichte Ablenkbarkeit der Straßenkinder berücksichtigt werden. Deshalb nahm diese Prozedur normalerweise mehrere Tage in Anspruch.

Jedes Kind wurde in Interviews über seine Lebensgeschichte befragt. Ziel dieser Interviews war es, Informationen über den Familienhintergrund und die Gründe des Weglaufens zu sammeln. Anhand dieser Informationen sollte versucht werden, die Eltern zu lokalisieren, um die Möglichkeiten für eine Versöhnung zu eruieren. Dieses war zum damaligen Zeitpunkt aber nur selten möglich. Die Mehrheit der Kinder wollten nicht zu ihrer Familien zurückgehen. Vermutlich nannten auch einige falsche Namen, was ohne Dokumente nicht überprüfbar war. Aus diesem Grund konnten die Polizei oder staatliche Stellen, selbst wenn sie gewollt hätten, auch keine Hilfe bei der Auffindung der Eltern leisten. Nicht zuletzt war es wegen der herrschenden Unruhen zu gefährlich, selber Nachforschungen in den Townships über den Verbleib der Familien anzustellen.

  figure335
Abbildung:  

Zeichnungen von Straßenkindern zu verschiedenen Themen. Die Zeichnung oben links entstand zum Thema ''Me at Home'' (Swart, 1990a, S.14). Es zeigt die problematische Beziehung zum Vater, von dem er geschlagen wurde, während die Mutter hilflos zuzusehen scheint. Unten links wird die Brutalität der Straße dargestellt (Swart, 1990a, S.111). Der Polizist wirft mit Tränengas und die Kinder drohen zu verbrennen. Oben rechts wurde eine zerstörte Schule in Soweto gezeichnet (Swart, 1990a, S.59). Es zeigt einen Polizeieinsatz nach einer Hinrichtung durch Necklacing. Die Schule brannte dabei ab, der Polizist schlägt ein Kind mit einer Riemenpeitsche, die anderen flüchten. Die Zeichnung unten rechts zeigt die Zukunftswünsche eines Kindes (Swart, 1990a, S.15). Der Junge wohnte zuhause in einer Blechhütte mit sechs Personen. Er träumte von einem eigenen Haus mit separaten Schlafzimmern, einer Toilette, Wasseranschluß und einem Auto.

Die psychologische Bewertung bestand aus zwei Teilen. Im ersten Teil wurden die Kinder aufgefordert, Zeichnungen zum Thema ''My Family'' und ''Sleeping on the Streets'' anzufertigen. Die Kinder wurden ermuntert, über ihre Zeichnungen einen kleinen Aufsatz zu schreiben oder ihn einer Pre-Group-Lehrerin zu diktieren. Auf diese Weise konnte man zusätzliche Informationen über das Leben und die Straßenerfahrung des Kindes erhalten. Die Zeichnungen wurden auch verwendet, um die in den Interviews gewonnenen Informationen zu überprüfen. Die Zeichnungen geben zum Beispiel Hinweise darauf, ob ein Kind neu auf der Straße ist oder ob es schon länger auf der Straße lebt. Kinder, die noch neu auf der Straße sind, zeichnen oft romantisierte Bilder des Straßenlebens, während Kinder, die schon einige Zeit auf der Straße verbracht haben, eher die harschen Realitäten des Lebens auf der Straße darstellen (Neethling, 1990, S.8). Auch Rückschlüsse über die Familienbeziehungen des Straßenkindes, wie es sich in der Familie fühlte und welche Position es dort einnahm, konnten durch die Zeichnungen gewonnen werden. Beispiele dieser Zeichnungen sind in Abbildung 4.6 gezeigt.

Der zweite Teil der psychologischen Bewertung bestand aus einem Fragebogen, den die Pre-Group-Lehrerin für jedes Kind ausfüllte. Der Fragebogen enthielt standardisierte Fragen über Verhaltensmerkmale und ließ genügend Platz, um besondere Auffälligkeiten des Kindes zu beschreiben. Weiterhin wurde eine von Street-Wise abgewandelte und vereinfachte Form eines Erhaltungs- bzw. Invarianztests nach Piaget durchgeführt, um Informationen über die kognitive Entwicklung des Kindes zu erhalten. Der Test über die Schulbildung bestand aus Fragen in den Fächern Englisch, Mathematik, Zulu und Süd-Sotho. Die Fragen überdeckten im Schwierigkeitsgrad ungefähr die erste bis siebte Klasse. Fast alle Straßenkinder, die von Street-Wise getestet wurden, waren normal oder fast normal bei ihrer kognitiven Entwicklung, aber ihre Leistungen im Schulbildungstest waren meistens schlecht (Neethling, 1990, S.9). Anhand der Ergebnisse dieser beiden Tests wurde entschieden, in welche Gruppe des Bridging-Programms ein Kind aufgenommen werden sollte. Ein Kind, dessen Ergebnisse aus beiden Tests sehr weit auseinanderlagen, wurde einer Gruppe zugeordnet, die ihm erlaubte, schnellen Erfolg zu erleben. Dadurch sollte es motiviert werden, mehr erreichen zu wollen. Ein Kind, dessen Ergebnisse aus den beiden Tests ähnlich waren, kam in eine Gruppe, die es herausfordern würde.

Nachdem die Fähigkeiten eines Kindes evaluiert worden waren und es sich in der Pre-Group an die neue Umgebung und die Lernsituation gewöhnt hatte, wurde es einer der vier Unterrichtsgruppen W,I,S,E zugeordnet. Die vier Gruppen entsprachen fortlaufenden Schwierigkeitsniveaus, wobei der Fokus der 'W' Gruppe im Bereich der Sonderpädagogik lag und deshalb für Schüler mit geringen schulischen Fähigkeiten geeignet war. Kinder der Gruppe 'E' am anderen Ende der Skala wurden intensiv auf ihre Integration in eine formale Schule vorbereitet. Im Laufe einer Umstrukturierung wurde das Alphabetisierungsprogramm der Gruppe 'W' zugeordnet. Die individuellen Stärken und Schwächen der Kinder bei den angebotenen Fächern wurden durch das von Street-Wise entwickelte Konzept des Dual-Timetabling berücksichtigt. Jede Gruppe wurde in zwei Untergruppen geteilt, von denen eine speziell gefördert wurde. Die Zusammensetzung dieser Untergruppen wechselte je nach Unterrichtsfach. Dadurch blieben die Gruppen klein und jedem Kind konnte mehr Aufmerksamkeit und Hilfe zuteil werden. Es war dadurch für die Kinder leichter, Erfolgserlebnisse zu haben, was sich positiv auf ihre Motivation auswirkte. Es ist wichtig, die Straßenkinder mit zwar fortschreitenden, aber für sie immer erreichbaren Zielen zu konfrontieren, um die Gefahr der frustrierten Aufgabe im Angesicht zu hoher Forderungen zu minimieren.

In Südafrika sind sehr viele Menschen bereit, ihre Zeit und ihr Wissen kostenlos für soziale Zwecke einzusetzen. Mit Hilfe dieser freiwilligen Mitarbeiter konnte Street-Wise einen umfangreichen Stundenplan anbieten. Während die festangestellten LehrerInnen die Fächer Englisch, Mathematik, Vernacular (Muttersprache: Zulu und Süd-Sotho) und handwerkliche Fähigkeiten unterrichteten, boten die Freiwilligen Kurse in Kunst, Gesundheit, Sexualerziehung, Kultur, Gesang und Zulutanz an. Wichtig waren auch die Kurse über Street-Law von Jura-Studenten, in denen die Kinder über ihre Rechte gegenüber der Polizei aufgeklärt wurden. Street-Wise knüpfte auch Kontakte zur psychologischen Fakultät der Universität von Witwatersrand in Johannesburg und der Universität von Südafrika in Pretoria. Sie leisteten Hilfe bei der Durchführung psychologischer Tests und boten, wenn nötig, therapeutische Beratungen an.


next up previous contents
Next: Der Besuch einer formale Up: Das Ausbildungsprojekt Previous: Das Alphabetisierungsprogramm

Chris Pinkenburg
Fri Aug 23 21:56:28 CST 1996